D: Eine persönliche Antwort

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20/11/2020

Der Erzbischof von München und Freising hat die Katholische Integrierte Gemeinde in seinem Bistum aufgelöst. Grundlage ist der Abschlussbericht der Visitatorinnen und des Visitators; dazu haben diese eine „Stellungnahme“ veröffentlicht.

Als Theologe und Priester nehme ich, wie für jeden Katholiken geboten, Worte und Entscheidungen der Hirten ernst und nehme sie mit gebührender Achtung an. In ihnen wird die Stimme der Kirche laut, in der wir leben und mit der wir handeln, denken und empfinden.

Die selbstverständliche Treue zur Kirche schließt Kritik nicht aus und verbietet nicht, die eigene Vernunft zu gebrauchen und ihre Erkenntnisse mitzuteilen, besonders dann, wenn Entscheidungen auf ungenügendem theologischem Erkennen und zum Teil unwahren Behauptungen beruhen, die Ansehen und Leben anderer beschädigen. Die „Stellungnahme“ der Visitatoren leidet genau an diesen genannten Defiziten.

Ich schreibe diese persönliche Antwort ohne jegliches Mandat, nur im eigenen Namen. Dabei geht auch nicht um Rechtfertigung oder Schönreden.

Ich hebe nur drei Punkte hervor (die Seitenangaben beziehen sich auf den publizierten Text der Stellungnahme):

1. Unter stilistischen Gesichtspunkten betrachtet, ist die Stellungnahme eher dem Genre des sogenannten Enthüllungsjournalismus zuzuordnen. Wer genau liest, findet vor allem Behauptungen, die als Tatsachen dargestellt sind, und Andeutungen. Da diese so allgemein gehalten sind, ist es unmöglich, darauf einzugehen, obwohl es zu fast allen Punkten Fakten gibt, die eine andere Sprache sprechen. Es wäre auch unange-bracht, ohne das Innerste von anklagenden Personen und ihrer Geschichten in ein öffentliches Licht zu zerren. Sich auf Satzfetzen („…auf einem Liedzettel“ S. 1; „Zeugnis davon gibt ein Gebet…“ S. 3, usw.) und nur angedeutete Dokumente zu stützen, ist mehr als schwach. Bei Themen, die ich selbst sehr genau kenne, wie zum Beispiel der Frage nach den theologischen Schwerpunkten der Gemeinde (S. 4: „Ideal der Besitzlosigkeit“, „Gemeinde-Theologie“ usw.), sind die Ausführungen erstaunlich fehlerhaft und zeugen von einer nur oberflächlichen Beschäftigung mit der Sache. Wie die Autoren selber sagen, beruht ihre Einschätzung auf Aussagen ehemaliger Mitglieder.

Was sie nicht sagen: Ehemalige Mitglieder und etliche Angehörige der Gemeinde, die zum Teil Jahrzehnte mit und in der Gemeinde lebten, haben sich schriftlich an die Visi-tatoren und Kardinal Marx gewandt. Ihre positiven Erfahrungen sind in keinem wesentlichen Punkt berücksichtigt. Eine überwältigende Zahl von ihnen, die sich bei mir gemeldet haben, nehmen vieles selbstkritisch auf – wie es der Herr im Bildwort vom Balken im eigenen Auge anmahnt (Mt 7,3) –, aber erkennen in der „Stellungnahme“ und dem Dekret in keiner Weise die Realität der Integrierten Gemeinde wieder. Sie sind entsetzt über die Entstellung des Lebens, das sie als freie Menschen Jahre und Jahrzehnte gelebt haben. Was an Gutem war und ist, wird zum Glück auch durch Diffamierung nicht zerstört. Dennoch ist es eine große Verantwortung, von der hohen Warte einer kirchenamtlichen Visitation darüber hinwegzugehen, nur weil es nichts Negatives enthält und weniger laut vorgebracht wird.

2. Fast alle sogenannten Geistlichen Bewegungen und Kirchlichen Gemeinschaften, die nach dem Krieg bzw. dem Zweiten Vatikanischen Konzil entstanden sind, sind seit einiger Zeit ins Fadenkreuz von Vergangenheitsbewältigern und ihren Ghostwritern, aber auch von einzelnen Mitgliedern der Hierarchie geraten und werden als verführerische Truppen vorgeführt: außen hui, innen pfui. Neben unbestreitbaren Defiziten und Fehlern spielt die „Aufarbeitung“ des Lebens ehemaliger Mitglieder eine große Rolle.

Aber ich frage: Kann es nicht auch sein, dass es in der Kirche schlicht Eifersucht gibt, einen Neid auf die neuen Aufbrüche angesichts des evidenten Niedergangs herkömmlicher Strukturen, eine Missgunst, die sich des Aufklärungsbedürfnis¬ses der Öffentlich-keit geschickt bedient? Dass als Ärgernis genommen wird, wenn in der Kirche etwas gelebt wird, was andere Christen an eine Form der Nachfolge erinnert, die Nachfolge nach den evangelischen Räten, in Gemeinschaft, und man dieses Ärgernis beseitigen muss, weil es einen in dem gut eingerichteten Christentum und den wohldotierten Strukturen unablässig stört?

Dahinter steht ein tiefes Unverständnis – weil Nicht-mehr-Erleben – dessen, was Kir-che und in ihr die Nachfolge des Herrn bedeutet. Was die „Stellungnahme“ ein „frag-würdiges Selbstverständnis“ (S. 1) nennt, richtet sich letztlich gegen das Verständnis der Kirche selbst, ihres Lehramtes, ihrer Versammlungen (Synoden, Konzilien, Kapi-telsversammlungen der Orden). Eine Errungenschaft der Theologie des 20. Jahrhunderts war ja die Erkenntnis, dass dies der ganzen Kirche zukommt, wo immer sie im Geist der Wahrheit und Freiheit sich versammelt. Das Wort des Herrn „Wer euch hört, hört mich“ (Lk 10,16), würde – wie alle Nachfolgeworte Jesu und alle Regeln der Orden – in der Logik der „Stellungnahme“ ein unstatthaftes Selbstverständnis und einen „Systemfehler“ (S. 3) darstellen. Die Vistitatoren kritisieren, die Versammlung habe „bis in die persönlichsten Angelegenheiten“ hinein Rat erteilt (S. 2). Richtig ist: Niemand darf das ungefragt tun. Aber jeder Gläubige darf andere Glaubende bitten, ihm in der Erfüllung des Gebotes, Gott zu „lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken“ (Lk 10,27) zu helfen. Die ganze alttestamentliche Tora ist voll davon. Ist dies auch „überzogen“ (S. 2)? Und der Verweis auf dieses Wort auch „eine Instrumentalisierung theologischer Erkenntnisse“ (S. 4)?

Es ist klar, dass die Frage des Glaubensgehorsams delikat ist und große menschliche Reife voraussetzt. Die Ausführungen der Visitatoren lassen aber erkennen, dass sie das Verständnis der Kirche als Ort, an dem Gott heute zu uns sprechen kann und spricht, insgesamt nicht teilen.

Wie viele Christen gibt es? Wie viele Katholiken davon leben in Bewegungen und Gemeinschaften? Sie sind so verschwindend wenige, dass man es nicht mit rationalen Argumenten verstehen kann, warum sich andere so obsessiv dafür interessieren. Das lässt sich nicht ausreichend mit den Klagen ausgetretener Mitglieder erklären und hat nichts mehr mit der gebotenen Hirtensorge zu tun.

Heute wird Katholiken, die sich freiwillig, verbindlich und mit realen Auswirkungen für ihr ganzes Leben zusammenschließen – wie es das Kirchenrecht ausdrücklich als ihr Recht beschreibt und empfiehlt (vgl. u.a. cann. 215, 216, 225 CIC) –, schnell eine „Versektung und Evangelikalisierung der katholischen Kirche“ vorgeworfen (so in ei-nem Buch gegen das „Mission Manifest“). Auf diesem Niveau bewegt sich m. E. auch die „Stellungnahme“. Das ist angesichts der schwindenden geistlichen Kraft der Kirche in unserem Land und im Hinblick auf die Probleme, die sich gerade aus einem vereinsamten Leben ihrer Hirten ergeben, zynisch und arrogant.

Nachdem die Visitatoren Benz und Sr. Tatschmurat durch die aktive, rechtswidrige Weitergabe des Zwischenberichtes an Dritte ihre Glaubwürdigkeit selber beschädigt hatten, bestellte der Erzbischof zusätzlich Frau Professorin Demel als Visitatorin. Wenn ich mir ihre theologischen Positionen zu wesentlichen Inhalten der katholischen Lehre vor Augen führe, bin ich über ihre Einschätzung der Gemeinde nicht überrascht.

3. Die „Stellungnahme“ verschweigt noch etwas Entscheidendes: Die Beschwerden und Anschuldigungen sammeln sich um ein nicht ausgesprochenes Kernproblem, durch das auch berechtigte Kritik ins Maßlose und Absurde verzerrt wird. Es geht um den Übergang des Impetus der Initiatoren der Katholischen Integrierten Gemeinde in die nächste Generation.
Ein Spezifikum der Integrierten Gemeinde war die Initiative eines Ehepaars zusammen mit einem Theologen und anderen. „Ehepaar“ bedeutet in diesem Fall auch: „Familie“, und damit ist die Frage aufgeworfen: wer kommt nach der Gründergeneration? Gibt es eine natürliche Vererbung des Charismas in der Familie? Deswegen blieb theoretisch die Frage offen, wo und mit wem der ursprüngliche Impetus weitergeht. Es brauchte Zeit, um zu erkennen, dass ein Charisma etwas Einmaliges ist und schon gar nicht als Leitungsposition von Kindern der Gründer geerbt werden kann. Klöster – als Lebensgemeinschaften am nächsten der Form Gemeinde – hatten diese Frage nicht; also konnte man nicht auf Vorbilder zurückgreifen.

Der Anspruch, als leiblicher Nachfolger Gemeinde unter eigener Leitung „machen“ zu können, musste in die Irre führen und hat auch in die Irre geführt. Gemeinde ist kein Clan. Einen solchen Versuch, in Rom eine von der Gesamtgemeinde unabhängige Gemeinde zu bilden, unternahm einer der Söhne und wollte als eigentlicher Erbe schalten und walten. Die Initiatorin der Gemeinde, Traudl Wallbrecher, hatte dies noch 2009 verhindert. Die darüber empfundene Kränkung ist der eigentliche Katalysator der Vorwürfe. Kummer ehemaliger Mitglieder, gleich ob berechtigt oder unberechtigt, wurde von daher bewusst angefacht, selbst um den Preis der Verdrehung der Fakten. Wer ein wenig Ahnung von geistlichem Leben hat, weiß, dass auch vermeintliche Kränkungen, wenn man sich nicht helfen lässt, ins Maßlose wachsen können. Dieses Problem hat sich leider über alles andere gelegt. Dass dann nicht einmal vor dem Hl. Vater Papst emeritus Benedikt XVI. halt gemacht wird, ist für mich der vorläufig letzte Be-weis, dass man lieber etwas zerstört, als es weiterzugeben.

Kardinal Schönborn hat zu solchen Vorgängen gesagt, sie würden zuerst einmal alle zur Umkehr und Selbstkritik aufrufen. Diese Ermahnung nehme ich, wie viele andere auch, sehr ernst. Da in der Kirche das Werk Gottes in den Händen von Menschen ist, muss alles immer wieder „gereinigt“ – biblisch: ausgeschmolzen (vgl. Mal 3,3) – werden, das Neue, aber auch das Alte. Was das so Ausgeschmolzene sein wird, ist nicht in unseren Händen. Bescheidenheit in der Selbsteinschätzung, Dankbarkeit trotz und in den Schwierigkeiten und zuversichtliche Nüchternheit, weiter gemeinsam zu leben und zu handeln, erwachsen daraus. Diese innere Seite eines äußeren Vorgangs wahrzunehmen, ist eine eigene Aufgabe, zu der die „Stellungnahme“ nichts beitragen konnte.

Vielleicht erkennt man – und darauf aufmerksam zu machen, ist ein Hauptanliegen meiner Antwort –, dass es bei aller speziellen Art der Fragen zur Integrierten Gemeinde und ihrer Geschichte im Grunde und vor allem um das rechte Verständnis der Kirche insgesamt geht.

25. November 2020

Prof. Dr. Achim Buckenmaier